Förderverein zur Erhaltung der Dorfkirche Landin e.V.

Geschichten aus Landin  -  Teil 3  (2019)

Hier werden nach und nach Anekdoten aus dem Dorfleben, Geschichten aus früheren Tagen und Erlebnisberichte von Bewohnern und Freunden von Landin veröffentlicht.

Wenn Sie eine eigene Geschichte beisteuern wollen, melden Sie sich bitte beim Förderverein. Wir freuen uns über neue Beiträge!


 

Milchreis mit Fisch

Zeichnung: Ulrike Wetz, Hamburg

Vor dem Krieg (1939 - 1945) gab es auf jedem Bauernhof einen Backofen. Einmal in der Woche wurde Brot gebacken. Der Backofen stand neben dem Haus und war aus Stein gemauert und hatte eine halbrunde Wölbung nach oben. Verschlossen wurde er mit einer Eisentür. Im Winter fuhren die Bauern in den Wald und sägten die Kiefern ab und die Zweige der Kiefern wurden zu viereckigen Paketen zusammengeschnürt und als Busch mit nach Hause genommen und dienten zum Anheizen des Backofens. Die trockenen Kiefernadeln brannten wie Zunder im Backofen. Diese Backöfen gab es auch noch lange nach dem Ende des Krieges, bis sie Gas- und Elektroöfen verdrängten.

Am Mittwoch war Backtag und die Bäuerin hatte schon einen Tag zuvor Sauerteig in das Mehl gemischt und alles mit Wasser gut vermengt und dann ging der Teig unter einem Tuch die ganze Nacht und am Morgen knetete die Hausfrau den Teig noch einmal richtig durch und formte Brotleiber daraus. Wenn der Backofen ausreichend aufgeheizt war, fegte der Bauer die Aschereste aus dem Ofen und die Frauen konnten die Brote und den Kuchen auf einem Brotschieber in den Ofen bringen. Meist buk sie auch noch ein oder zwei Bleche Streußelkuchen, die dann am Sonntag gegessen wurden. Das Brot reichte dann bis zum nächsten Backtag.

Den größten und schönsten Backofen hatte der Bauer Frieder Müller in Landin. Wenn seine Frau Agathe alles fertig hatte, durften auch die armen Nachbarn zu Weihnachten und vor den großen Festen wie Ostern und Pfingsten den Backofen benutzen. Sie hatten ja keinen eigenen Backofen. Abends, wenn an schönen Tagen ein Abendrot über den Wiesen und Wäldern von Landin stand, meinten sie vor dem Weihnachtsfest: “Frau Holle bäckt Kuchen.“ Während die mitgebrachten Kuchen und Brote im Agathes Backofen buken, wurden in der Küche mancherlei Geschichten erzählt aus alten Zeiten und was so gerade im Dorf passiert war.
Die Vorweihnachtszeit, wo es schon früh dunkel wurde, und man sowieso enger zusammenrückte, war für die mitgekommen Kindern eine schöne Zeit. Den Duft der Kuchen und Lebkuchen, der Plätzchen und des Brotes behielten sie ihr Leben lang in der Nase. Agathe Müller hatte auch für die armen Nachbarskinder immer eine große Schale mit Lebkuchen und Weihnachtsplätzchen stehen und die Kinder ließen sich nicht lange nötigen, was die Bäuerin sehr freute, denn sie konnte vor Weihnachten manchmal richtige Kunstwerke backen und hatte an den immer wieder neu erdachten Plätzchenrezepturen ihre Freude. Es gab Mohnplätzchen und Haferflockenmakronen, Haselnussgebäck und kleine Plätzchen mit einer Walnuss oben drauf. Sie verwendete nur Mehl, dass der Müller ihr aus ihrem eigenen Weizen gemahlen hatte und eigene Butter, und Bienenhonig von ihren Bienen, denn hinter dem Haus hatte ihr Mann 20 Bienenkörbe aufgestellt. Sie kaufte nie Zucker und benutzte zum Süßen überall ihren eignen Bienenhonig.

Am Tag St. Bartholomäus (24.08.) kam die Bäuerin in große Not, denn das Gewölbe des Backofens war eingestürzt. Agathe Müller bestellte den Ofensetzer aus Semlin und beauftragte ihn, den Schaden zu reparieren. Der Meister Kurt Eisenach kam mit seinem Lehrjungen Fritz Kröning angelaufen und schaute sich den Schaden an. „Ja,“ sagte er zur Bäuerin, „das ist leicht zu reparieren. Haben Sie denn Lehm auf dem Hof.“ „Natürlich, es ist alles da. Dort steht ein Wassereimer an der Pumpe. Sie können alles benutzen. Wollen Sie zum Mittagessen bleiben?“ „Was gibt es denn?“ „Heute gibt es bei uns Milchreis mit Fischen.“ Milchreis mit Fischen war eine Mahlzeit, die alle sehr mochten. Eigentlich gab es die nur zu Hochzeiten. Es war ein in saurer Marinade eingelegter Bierfisch, den man über fest gekochtem Reis füllte. „Na mal sehen.“
Der Meister Eisenach werkelte mit seinem Lehrjungen an dem Ofen herum. Die Steine für das Gewölbe wurden gesäubert und mit Lehm neu verfugt. Dann bat der Meister den Fritz sich in den Backofen zu stellen und das Dach mit seinem Rücken zu halten. Er wollte reingehen zur Bäuerin und gleich seinen Arbeitslohn holen. „Was kostet es denn?“ fragte Agathe Müller. „45 Mark.“ Die Bäuerin holte das Geld bezahlte den Arbeitslohn und fragte noch einmal, ob er mit seinem Lehrling nicht zum Essen bleiben wollte. „Nein, nein, wir wollen keinen Milchreis mit Fischen.“ Dann lief der Meister zum Backofen und rief hastig seinen Lehrjungen und sagte: „Komm schnell, wir müssen nach Hause.“ Als Fritz Kröning den Backofen verließ, dauerte es keine fünf Minuten, da war das Gewölbe wieder eingestürzt. Die Bäuerin sah das und lief auf die Straße und rief den beiden nach: “Meister der Backofen ist wieder eingefallen.“ Aber die zwei liefen nur noch schneller zum Ortsausgang und winkten immer ab und riefen: „Nee, nee, wir wollen keinen Milchreis mit Fischen.“ Die Bäuerin rief noch mehrmals hinterher: „Aber hören Sie doch, der Backofen ist wieder eingefallen.“ Meister Kurt Eisenach wehrte immer heftiger ab und rief in eiligem Trab: „Nee, nee, wir wollen keinen Milchreis mit Fischen.“

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.12.2019
 

Melkries met Fische

(In jedem Dorf in Brandenburg wurde bis 1945 Plattdeutsch gesprochen mit feinen Unterschieden von Dorf zu Dorf. Die Schreibweise folgt nicht dem klassischen Platt)

 

Video

Anna Muchow ut Landin, wat woll mine Grootmöhm is, vertellt mi, wenn se wier 90 düsse Jeschicht van de Backhan.

Do wier eens en Töpper, Isenach hätt er heten un der is ut Semlin komen un hett de Ofens immer jesett. Dunnemals han se groote Backhans in de Goorns to stohn. Eeens wier de Backhan van de Buure Müller innefalln. Do is de Töpper Isenach met sien Liehrjung Fritze Kröning do henemockt und hett den Backhan wedder heel mockt. De Buursfru Agathe Müller ut Landin käm rut un seggt t`on Meester: ”Wenn se fardig sin met de Arbeit, will ick em furts dat Jeld geven un se künn noch bei uns Middagbroot eten. Et gift Melkries met Fische.” “Na ,wi mün ierst sehn”, hät denn de Töpper jeseggt. Melkries met Fische wier dünnemals een fien Eten, wat et nur ob den Hochtid gav. Dat wier Beerfisch den hebben de Lüüd över den Ries jefüllt.
Wie de Töpper mit siem Liehrjung den Bachhan fardig hadden, seggt de Meester t`um Liehrjungen: ”Du blüffst nu in den Bakhan sitten en holst met dien Puckel dat Jewölv, dat et nich infalln sull. Ick go dann rin en will mi dat Jeld geven laten.” Dat Jewölv holl wull nich recht oder se häm et nich recht jebaut. De Meester geiht ook los in`t Huus en seggt: ”Buursfru de Backhan is fardig.” De Buursfru seggt : ”Dat is ja schöön. Hier heste gliek dien Jeld. Nu kumm man en et noch Melkries met.” “Nee,” seggt de Töpper, “wie willn keen Melkries met Fische.” Nu is er ruterennt en seggt t`um Liehrjungen: ”Kumm! Kumm!” Denn sünd se beide losgelopen na de Hauptstraat hen. De Buursfru keem ut dat Hus en seh, dat de Bakhan wier innefallen. Do hät se immer jeroopen:” Meester, de Backhan is innefallen.” De Töpper aver röppt alltiet torüch: ”Nee, nee, wi willn keen Melkries met Fische.” De Buursfru röppt noch eens: ”De Backhan is innefalln.” Doch de Töpper röppt furtsweg: ”Wi willn keen Melkries met Fische, wi willn keen Melkries met Fische,” en löppt immer fixer na de Hauptstraat to.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.12.2019


 

Die verbotene Liebe des Robert Gaschler

Wohnhaus von Agnes und Otto Hünicke

Otto und Agnes Hünicke hatten eine einzige Tochter Ingrid, die 1924 in Landin geboren wurde. Sie waren Großbauern und Otto Hünicke war stolz, ein Bauer in Landin zu sein. Seine Tochter Ingrid arbeitete natürlich auf dem elterlichen Bauernhof mit und als sie in das heiratsfähige Alter kam, verliebte sie sich in Robert Gaschler.
Robert Gaschler war 1945 mit seinen Eltern aus der Bukowina (Rumänien) nach Landin gekommen und arbeitete auch in der Landwirtschaft. Er war ein fleißiger ordentlicher Mann, dem eigentlich nie etwas zu viel wurde. Sie waren beide jung und verliebt und das Leben war trotz der schweren Arbeit rosarot und schön.

Aber der Hochmut von Otto Hünicke kannte keine Grenzen. Er wollte nicht, dass eine Großbauerntochter einen armen Flüchtling heiratete. Für seine Tochter hatte er einen reichen Mann mit einem Bauernhof vorgesehen. Ingrid weinte viel, konnte sich aber gegen ihren herrischen Vater nicht recht durchsetzen. Otto Hünicke bedrängte seine Tochter so sehr, dass die Bindung zerbrach. Robert Gaschler war darüber auch traurig, aber er war jung und fand bald Brigitte Ast aus Rathenow, die seine neue Freundin wurde. Als Ingrid davon hörte, schrie sie vor Kummer und Schmerz und wollte sich nicht trösten lassen. Die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit ihrem geliebten Robert gab sie aber nie auf.

Und wie es im Leben so kommt, hielt die Verbindung zwischen Brigitte Ast und Robert Gaschler nicht lange. Man trennte sich ohne großes Aufsehen. Und nun heiratete Robert Gaschler trotz des Widerstands seines Schwiegervaters im Mai 1957 seine Jugendliebe Ingrid. Es war eine stille standesamtliche Trauung ohne großes Aufsehen. Robert Gaschler war katholisch und Ingrid war protestantisch. So verzichteten beide auf eine kirchliche Hochzeitszeremonie. Sie bauten sich ein Siedlungshaus am Dorfeingang und lebten zufrieden in Landin. Sie waren mit dem vom Staat zur Verfügung gestellten Grund und Boden zufrieden und hatten ihre täglichen Aufgaben. Robert fuhr in seinen Wald und fällte die Bäume. Dann sägte er die Stämme in kleine Stücke und hackte im Winter jeden Tag Holz und stapelte es am Haus auf, so akkurat und fein, dass es für jeden eine Freude war. Die Landwirtschaft und später die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) gab ihnen Arbeit und Auskommen. Sie hatten keine Kinder, waren aber so glücklich miteinander, wie man es nur sein kann.

Siedlungshaus von Ingrid und Robert Gaschler in Landin

Bei der Großbauernwirtschaft der Eltern von Ingrid Hünicke ging es nach und nach alles den Krebsgang. Sie waren alt und krank und konnten den großen Hof nicht mehr bewirtschaften. Der Schwiegersohn, Robert Gaschler, war ihnen nicht willkommen und so ging alles weiter bergab, bis sie beide starben. Ingrid hatte ihr Glück gefunden und lebte mit ihrem Robert bis Gott der Herr, gelobt sei sein Name, beide zu sich nahm.
Heute wohnen junge Familien in den Häusern und beleben das Dorf mit ihrem Fleiß und ihrer Arbeit.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.11.2019


 

Anne

Eva-Maria und Peter Durchdenwald wohnten im Neubaublock in Landin. Peter Durchdenwald war eigentlich Koch, arbeitete aber bald in der Chefetage der Konsumgenossenschaft des Kreises Rathenow. Nach der Einheit Deutschlands zog Peter Durchdenwald nach Rathenow und arbeitete erfolgreich für eine Krankenversicherung. Eva-Maria und Peter Durchdenwald hatten einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn studierte Jura und führte später eine Anwaltskanzlei in Berlin. Die Tochter Anne verliebte sich in jungen Jahren in einen wunderschönen Klassenkameraden aus Rathenow und dachte mit ihm durch´s Leben zu gehen. Aber die Schönen finden überall andere Schöne und so trennte er sich bald von ihr, was Anne in eine tiefe Krise stürzte. Die Eltern waren bei diesem Kummer recht ratlos, wie man der Tochter helfen sollte, bis ein Freund der Familie vorschlug, Anne ein Jahr als Austauschschülerin in die USA zu schicken. Das heilte ihren Kummer und als sie zurückkam, studierte sie, wie ihr Bruder Jura und sagte nach dem Studium: „Ich bleibe nicht hier, ich gehe nach Irland.“ So mussten die Eltern sie schweren Herzens ziehen lassen. Sie ging nach Dublin und suchte sich dort Arbeit. Als die Tochter Anne ihren 30. Geburtstag feierte, waren natürlich die Eltern in Dublin und feierten mit ihrer Tochter den besonderen Tag. Durch eine Bombendrohung wurde der Flugplatz eine Woche lang gesperrt und die Eltern mussten drei Tage länger als geplant in Dublin bei der Tochter bleiben. „Ich habe aber noch Freunde zur Nachfeier eingeladen,“ sagte die Tochter zu den Eltern, „und mit einem Freund bin ich besonders herzlich verbunden. Ihr könnt ja mal raten, wer es ist?“ Die Eltern fanden natürlich sofort heraus, dass es sich um Jacob O`Callaghan, genannt Jac, handelte und nun beichtete Anne ihren Eltern, dass sie den Jac beim Volleyballspielen kennenglernt hätte und dass sie sich beide sofort ineinander verliebt hätten und dass sie schon standesamtlich in Dublin geheiratet hätten und sie ein Baby erwarte. „Aber die kirchliche Trauung machst Du doch in der Sankt-Marien-Andreas-Kirche, wenn das Baby geboren ist?“, fragte der Vater. „Natürlich,“ erwiderte die Tochter, „die richtige Hochzeit feiern wir in Rathenow.“ Die große Hochzeit mit 80 Gästen erfolgte 2011 in der Sankt-Marien-Andreas-Kirche. Der Pfarrer, der ein paar Semester in den USA Theologie studiert hatte, traute Anne und ihren Jacob und zwar in einem zweisprachigen Gottesdienst. Die erste Strophe des Liedes „Nun danket alle Gott“ wurde in Deutsch gesungen, die zweite Strophe in Englisch und so ging es auch in der Trauung, immer erst in Deutsch und gleich danach in Englisch.

1. Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen, der große Dinge tut an uns und allen Enden, der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zugut bis hierher hat getan.

1. Now thank we all our God with hearts and hands and voices, who wondrrous things has done, in whom his world rejooices; who from our mother´s arms has blest us on our way with countless gifts of love, and still is ours today.

2. Der ewig reiche Gott woll uns bei unserm Leben ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben und uns in seiner Gnad erhalten fort und fort und uns aus aller Not erlösen hier und dort.

2. O may this bounteous God trough all our life be near us, with ever joyful hearts and blessed peace to cheer us; and keep us in his grace, and guide us when perplex´d, and free from all ills, in this world and the next.

3. Lob, Ehr und Preis sei Gott dem Vater und dem Sohne und Gott dem Heilgen Geist im höchsten Himmelsthrone, ihm, den dreiein´gen Gott, wie es im Anfang war und ist und bleiben wird so jetzt und immerdar.

3. All praise and thanks to God the Father now be given, the Son, and him who reigns with them in highest heavern; the one eternal God whom earth and heav`n adore; for thus it was, is now, and sh all be evermore.

Text: Martin Rinckart
(*1586 in Eilenburg - † 1649 in Eilenburg)

Melodie: Martin Rinckart
(*1586 in Eilenburg - † 1649 in Eilenburg)

 
Auch wurde bei der Hochzeit die ¾ jährige Tochter Olivia Emily Rebecca getauft. Danach fuhr die Hochzeitsgesellschaft in ein Restaurant am Semliner See und feierte ein rauschendes Fest. Die Gäste kamen aus Deutschland, England, Frankreich, Italien, den USA, Ungarn und Afrika. Es war ein buntes Völkchen, was in wunderbarer Harmonie dieses Fest feierte, denn Englisch verbindet die Menschen. Am Schluss wurden Luftballons mit Glückwunschkarten an Anne und Jac in den Abendhimmel geschickt und wenn einer die Karte findet, sollte er sie an das frisch vermählte Paar schicken.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.10.2019


 

Der Prozess

Elisabeth Müller mit Sohn Dieter

Elisabeth Müller lebte mit ihren Eltern und dem Sohn Dieter in einem kleinen Häuschen in Landin und versuchte, nachdem ihr Mann 1943 in Russland im Krieg ums Leben gekommen war, so recht und schlecht zurechtzukommen. Ihre Mutter Olga und ihr Vater halfen ihr dabei. Die Mutter hatte eine Krebserkrankung an der linken Schläfe und war von dem berühmten Chirurgen Dr. Wilhelm Reinke in Rathenow „bei klarem Verstand“ operiert worden, wie sie gern erzählte, und präsentierte allen ihre große Narbe. Bei klarem Verstand meinte wohl in lokaler Betäubung. Der Chirurg war wirklich ein Künstler seines Faches, denn er operierte 1930 den Blinddarm mit so einem kleinen Loch in der Haut, dass die heutigen Endoskopie-Operateure vor Neid erblassen könnten. Er hatte ein kleines Krankenzimmer neben seinen Praxisräumen eingerichtet. Wenn er die Operation beendet hatte, trug er jeden Patienten selbst in das Krankenzimmer und legte ihn ins Bett. Viele kuriose Geschichten waren von ihm Umlauf. Als die Frau des Landrates, Alice von Bredow, einmal in seiner Praxis erschien und sich vor ihm aufstellte und sagte: “Ich bin Alice von Bredow,“ meinte der Dr. Reinke, der alle duzte: “Wenn das so ist, kriegst Du zwei Stühle bei mir,“, worauf die adlige Dame fluchtartig seine Praxis verließ und zur Berliner Charité fuhr, wo man sich aber an die komplizierte Operation nicht so recht ranwagte und ihr bedeutete, sie möge doch zu dem brillanten Chirurgen Wilhelm Reinke nach Rathenow gehen. Als sie dann kleinmütig wieder in seiner Praxis erschien, begrüßte er sie mit den Worten: „Na sieh`ste Mädchen, nun hab´ ich Dich ja doch.“

Die Eltern von Elisabeth hatten ein kleines Stückchen Feld neben dem Haus, das sie bewirtschaften und einen riesengroßen Garten. Sie fütterten zwei Kühe und ein paar Schweine und hatte Hühner, Enten und Gänse.
In der Nachbarschaft lebte eine reicher Großbauer Willi Schulze, der mit seiner Frau Mathilde, seinem Bruder Paul und seiner Schwester Else die ganze Wirtschaft bearbeitete. Mathilde war eine bildhübsche Frau und stammte aus Kamern. Man nannte sie überall Tilli. Willi Schulze hatte eine prächtige Kutsche und zwei braune Hengste, mit denen er gern durchs Dorf und nach Rathenow fuhr. Er war auch jedes Jahr zur „Grünen Woche“ in Berlin und schwärmte von diesem Ereignis. Mit der ehelichen Treue nahm er es aber nicht so genau. Eine schöne Witwe mit drei Kindern hatte es ihm angetan, und er war gern bei ihr. Sie hieß Sophia Kaiser und war eine perfekte Hausfrau. Sie konnte wunderbare Torten backen. Wenn ein Bauer im Dorf Geburtstag hatte oder eine Familienfeier anstand, brachte man Mehl, Butter, Eier, Zucker und eingewecktes Obst zu Sophia und sie zauberte Schwarzwälderkirschtorten und Butterkremtorten und andere Köstlichkeiten für die Kaffeetafel. Tilli arbeitete lieber auf dem Feld. Abends gab es in der Familie immer Pellkartoffeln mit Stippe. Die Stippe wurde aus gebratenem Speck mit Zwiebeln und Mehl hergestellt und jeder nahm sich nachdem die gekochten Kartoffeln einfach in einer Schüssel auf dem Abendbrottisch gestellt wurde, eine Kartoffel und pellte sie ab und stippte sie in die Soße und das, Abend für Abend. Willi Schulze war mit seinen Geschwistern und seiner Frau immer verzankt und die Nachbarn wunderten sich, dass sie, obwohl sie wochenlang nicht miteinandersprachen, sich jeden Tag immer auf dem gleichen Feld oder der Wiese zur Arbeit einfanden. Willi bezahlte seine Geschwister Paul und Else für ihre Arbeit. Geld hatte er genug.

Elisabeth Müller hatte inzwischen eine Arbeit als Köchin in der „Bahnhofswirtschaft Rathenow“ im Rathenower Hauptbahnhof gefunden und fuhr jeden Tag auch im Winter mit einem „Hühnerschreck“ zur Arbeit. Als „Hühnerschreck“ bezeichnete man ein Fahrrad, das einen kleinen Benzinmotor zum Antrieb an der Seite angebaut hatte.

Bahnhof Rathenow

Sie war eine fleißige Frau und kochte Soljanka, Kartoffelsuppe und legte das Fleisch für den Sauerbraten ein und machte riesige Schüsseln von Kartoffelsalat, denn Kartoffelsalat mit Würstchen war am Bahnhof der Renner. Siegfried Bading führte von 1946 – 1973 als sparsamer und umsichtiger Mann die Gaststätte und hatte so einen guten Ruf, dass viele Rathenower gern zum Essen zu ihm kamen. In den besten Zeiten hatte er fast 50 Mitarbeiter und die Gaststätte lief jeden Tag bis 22:00 Uhr. Auch am Heiligabend mussten seine Frau und die beiden Töchter Heidemare und Hilke bis nach 22:00 Uhr auf die Bescherung warten, weil der Vater Mitleid mit den Reisenden hatte und sie auch noch am Abend mit Essen versorgte. Er ließ selten Lebensmittel verderben. Morgens tauchte er die alten knochenharten Brötchen in seinen Kaffee und aß sie dann als eine Art Kaffeemüsli mit Marmelade.

Bierdeckel der Bahnhofswirtschaft

Paul Schulze hatte Elisabeth Müller ins Herz geschlossen und an den Sonntagen machten sie oft lange gemeinsame Spaziergänge durch die Wälder und Felder um Landin. Er half ihr auch bei der Feldarbeit, als ihre Eltern das nicht mehr konnten. Reinhilde, ihre jüngere Schwester, war nach Westberlin gegangen und arbeitete dort. Sie heiratete einen Westberliner und bekam einen Sohn. Als sie das zweite Mal schwanger wurde, fragte sie ihre Schwester, ob sie nicht den zweiten Sohn mitaufziehen könnte. Ihr würde das zu viel werden. Elisabeth sagte: „Aber natürlich, das mache ich gern.“ Und so wuchs neben ihrem Sohn ein kleiner Knirps in Landin heran, der auch an ihr hing, als wäre sie seine Mutter und das war sie ja letztendlich auch. Willi Schulze und seine Frau Mathilde starben kinderlos und hinterließen alles dem Bruder Paul. Als auch Else, die Schwester von Paul, starb, wohnte er ganz allein in dem großen Haus. Elisabeth kümmerte sich sehr um ihn. Sie hielt ihm das Haus in Ordnung, sie machte ihm die Wäsche und kochte für ihn und manchmal wohnte sie auch bei ihm. Ihr Eltern waren gestorben, die beiden Söhne gingen ihre eigenen Wege und so fühlte sie sich zu Paul hingezogen, und er nahm ihre Liebe dankbar an. Er sagte zu ihr: „Weißt Du ich habe 100.000,00 Mark auf dem Konto und ich brauche ja nicht mehr viel. Ich bestelle die Notarin und dann mache ich mein Testament zu Deinen Gunsten. Du bekommst das Geld und das Haus und alles, was zum Hof gehört.“ „Wenn Du das so willst, machen wir das so.“ Elisabeth Müller fuhr zur Notarin, Luise Freitag, und bestellte sie nach Landin, denn Paul Schulze sei schon zu alt und gebrechlich, um noch selbst nach Rathenow zu kommen. Die Notarin kam auch pünktlich um 10:00 Uhr nach Landin, wo ihr aber Elisabeth Müller mitteilte, dass Paul Schulze in der Nacht ins Krankenhaus gekommen wäre und am Magen operiert worden sei, so dass der Termin verschoben werden müsste. Elisabeth fuhr natürlich sofort ins Krankenhaus und sprach mit dem Operateur, Dr. Wilhelm Grundmann, der ihr mitteilte. Ihr Freund hätte einen Magendurchbruch gehabt. Ein Magengeschwür sei geplatzt und man hätte einen Teil des Magens entfernen müssen, aber der Paul sei ja ein „harter Knochen“, der würde das schon überstehen. Sie besuchte den Paul auf der Wachstation und sprach mit ihm über den vergeblichen Besuch der Notarin. „Hol doch bitte alles Geld vom Konto und nimm es an Dich, wir bestellen die Notarin, wenn es mir wieder besser geht,“ sagte Paul zu ihr und sie hatte ja schon lange eine Bankvollmacht von ihm. Paul war guter Hoffnung, dass er bald wieder nach Landin könne und sie war getröstet durch seine Worte. Aber sie fuhr doch zur Bank und hob 90.000,00 Mark bar vom Konto ab. Jeden Tag besuchte sie den Paul und brachte ihm frische Wäsche und fragte, ob sie noch etwas für ihn besorgen sollte, aber er winkte nur müde ab und war zufrieden. So recht vorwärts ging es aber doch nicht mit dem Heilungsprozess und Dr. Wilhelm Grundmann erklärte ihr: „Er ist eben schon alt, da dauert alles etwas länger.“ Als sie eines Morgens wieder ins Krankenhaus kam, lag er nicht mehr auf der Station und die Ärzte sagten ihr, er hätte in den frühen Morgenstunden eine Nachblutung bekommen, die nicht mehr zu beherrschen war. Sie weinte bitterlich und sorgte für das Begräbnis und wollte den Haushalt auflösen, als sie von einem Anwalt einen Brief erhielt und ihr untersagt wurde, sich weiter um die Angelegenheiten zu kümmern, denn Verwandte im Dorf seien die legitimen Erben und hatten schon einen Erbschein beantragt. Sie wurde auch aufgefordert, die 90.000,00 Mark zurückzugeben, die sie in ihren Augen widerrechtlich abgehoben hätte. Elisabeth Müller sagte sich: „Ich habe mich um ihn gekümmert, als er alt war. Er hat mich dazu aufgefordert, das Geld abzuheben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen,“ und rührte sich nicht. Aber eine Tante und ein reicher anderer Verwandte verklagten sie beim Kreisgericht Rathenow und forderten die Herausgabe der 90.000,00 Mark. Es kam zum Prozess in Rathenow und nun wurde alles noch einmal aufgerollt.

Gericht in Rathenow

Der Richter fragte sie, was sie zu den Anschuldigungen zu sagen habe. Elisabeth Müller erklärte dem Richter, dass Paul Schulze ihr Lebensgefährte war und sie sich um ihn gekümmert hatte und er die Notarin bestellt hätte, damit sie zur alleinigen Erbin eingesetzt würde, dass aber wegen der schweren Erkrankung die Notarin das Testament nicht mehr aufsetzten konnte und Paul habe sie im Krankenhaus beauftragt, das gesamte Geld vom Konto zu holen. Sie habe ja nicht ahmen können, dass er wirklich stirbt, denn die Ärzte wären sehr zuversichtlich gewesen. „Warum haben Sie denn nur 90.000,00 Mark und nicht alles abgehoben?“ fragte der Richter. „Weil ich ja alles erben sollte.“ „Und wo ist das Geld nun?“ fragte der Richter weiter. Elisabeth hob die Achseln. „Na, Sie müssen doch wissen, wo das Geld ist?“ Erneutes Achselzucken. Jedenfalls kam das Gericht zur Überzeugung, dass es der letzte Wille des Verstorbenen war, der Verklagten das Geld zu geben. Die Notarin bestätigte den vereinbarten Termin, der ja dann nicht zustande gekommen war. Die Klage der Verwandten wurde abgewiesen und die Kosten entsprechend dem Streitwert auf 10.000,00 Mark festgelegt. Die Verwandten wurden verurteilt die Kosten des Verfahrens zu tragen und damit waren die restlichen 10.000,00 € Mark auf dem Konto auch dahin, sehr zum Ärger der Verwandten. Die verkauften das Haus und hatten so wenigstens eine kleine Einnahme. Elisabeth freute sich an dem Geld, auch wenn sie lieber ihren Paul behalten hätte, aber im Leben kann man nicht alles haben.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.09.2019


 

Das verschwundene Haus

 
In der Mitte des Dorfes Landin stand vor vielen Jahren ein altes Bauernhaus mit Stallungen und einer Scheune, das der Familie Trägenapp gehörte. Als der Vater 1850 unerwartet starb, verkaufte seine Frau das Gehöft, den Acker, die Wiesen und den Wald an Reinhold Mewes und verließ das Dorf. Sie zog mit ihrer Tochter Lina nach Damme zu Verwandten. Die Bauten wurden nach und nach abgetragen und jetzt ist nur noch eine Lücke davon geblieben. Lina Trägenapp war mit ihrer Mutter nicht gern nach Bamme gegangen, denn sie hatte ihren Freund, Max Brunow, in Landin zurückgelassen. Aber nach ein paar Jahren, wo es nur zu sporadische Treffen der beiden Liebenden gekommen war, holte Max Brunow Lina Trägenapp wieder zurück nach Landin und es fand eine große Hochzeit in der Dorfkirche Landin statt und eine schöne Feier in der Gaststätte Muchow. Max Brunow und seine Frau Lina wohnten in der Steinstraße 2 in Landin und hatten einen kleinen Bauernhof.

Landin, Steinstraße 2


Friedrich Sandberg 08.04.1948
(genannt Fritz)


Hochzeit Evamaria und Fritz Sandberg 29.05.1943

Hochzeit am 19.06.1914
Elisabeth Sandberg, geb. Brunow und Paul Sandberg


Evamaria und Fritz Sandberg mit ihren Töchtern Renate und Adelheid 08.04.1948

Die Schwester von Max Brunow, Elisabeth Frieda Ida Brunow, war am 01.06.1884 in Landin geboren worden und heiratete am 19.06.2014 Paul Otto Friedrich Sandberg, der am 22.04.1884 in Buckow bei Nennhausen geboren worden war.

Am 08.04.1915 wurde dem jung vermählten Paar der Sohn Friedrich Wilhelm Richard Sandberg in Buckow bei Nennhausen geboren. Er wurde aber von den Eltern und Großeltern immer Fritz genannt.

Elisabeth Sandberg wollte sich gerade von ihrem Mann trennen, als der plötzlich und unerwartet starb. Bei einer Fahrt mit dem Pferdefuhrwerk ginge ihm die Pferde durch, und er wurde von der Deichsel erschlagen. Sie zog ihren Sohn Fritz allein auf und Fritz heiratete am 29.05.1943 in der Dorfkirche Pessin Evamaria Elisabeth Dorothea Bublitz, die am 21.06.1919 in Gruna geboren worden war.

Fritz und Evamaria Sandberg hatten zwei Töchter. Renate und Adelheid. Nachdem etliche Jahre ins Land gegangen waren und Lina Brunow nicht schwanger wurde, entschloss sich das Ehepaar Brunow den Neffen Fritz Sandberg zu adoptieren und ihm das Haus und die Wirtschaft zu überschreiben. Fritz Sandberg zog mit seiner Frau nach Landin und bewirtschaftete den Bauernhof. Er bestellte die Felder und versorgte das Vieh und hielt das Haus in Ordnung. Seine Mutter Elisabeth nahm er mit nach Landin und sie freute sich, dass sie nun wieder an ihrem Geburtsort leben durfte. Sie half, solange sie konnte, auf dem Hof mit und starb am 10.03.1960 in Landin. Es gab viel Arbeit. Die Kühe mussten gemolken werden, die Schweine gefüttert und die Hühner mit Korn versorgt werden. Jedes Jahr wurde ein Schwein geschlachtet und Schlackwurst, Schinken und Speck geräuchert und das reichte dann bis zum nächsten Jahr. Der Garten und die Felder brauchten das Jäten. Die ganze Familie half dabei mit, auch die Kinder. Jeden Nachmittag ging es zum Rübenhacken auf die Felder und beim Heuwenden und Roggenmähen mussten die Kinder auch mit Hand anlegen. Renate hatte die Gänse zu hüten. Es gab immer etwas zu tun.

Es war eine glückliche Zeit für die Familie. Die Töchter gingen zur Schule und hatten Freundinnen gefunden. Damals hatten noch viele Kühe Tuberkulose und Fritz Sandberg infizierte sich bei seinen Rindern und erkrankte schwer. Trotz Therapie verstarb er mit 41 Jahren am 19.05.1957 in Rathenow. Die Mutter mühte sich recht und schlecht den Hof weiterzuführen, aber 1961 gab sie die Wirtschaft auf und zog mit ihren beiden Töchtern nach Dahme (Mark). Die letzten Lebensjahre verbrachte sie in Cottbus, wo sie am 30.01.1988 starb.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.08.2019


 

Annemarie Mewes

eine Lebensgeschichte aus Landin

Annemarie Mewes
(*31.10.1916 – † 05.02.2013)

Frieda Schmidt
Foto von Gustav Nause
(Fotoatelier Rathenow, Bahnhofstr.32)

Annemarie Mewes, geborene Friedrich, wurde am 31.10.1916 in Nennhausen geboren. Ihr Vater, Karl Friedrich, arbeitete zuerst als Postbote in Kotzen und zog mit seiner Frau Frieda Friedrich, geborene Knoop, von Kriele nach Nennhausen. Der Vater fiel im ersten Weltkrieg. Als der Vater gestorben war, zog die Mutter wieder zurück nach Kriele, denn ihr Bruder, der den elterlichen Hof übernehmen sollte, starb mit 23 Jahren. Frieda Friedrich heiratete dann ein zweites Mal - ihren heimlichen Verehrer Paul Schmidt aus Damme.

Kurt Mewes aus Landin

Annemarie und Kurt Mewes
Kirchliche Trauung in Kriele
(10.05.1940)

Annemarie Mewes ging in Kriele zur Schule und lernte ihren späteren Mann Kurt Mewes aus Landin kennen, der am 18.03.1906 in Landin geboren worden war.

Sie besuchte mit 21 Jahren eine Haushaltsschule in Rathenow, wo sie Kochen, Braten und Nähen lernte. Am 10. 05.1940 heiratete sie den Landwirt Kurt Mewes und zog nach Landin.

Am 28.02.1942 wurde die Tochter Ingrid und am 06.07.1943 wurde die zweite Tochter Brigitte geboren.

Frieda Schmidt mit ihrer Tochter Annemarie

Am 24.08.1944 wurde der Vater zum Krieg eingezogen und geriet in russische Gefangenschaft. 1947 kam er wieder nach Landin zurück und bewirtschaftete mit seiner Frau Annemarie bis 1960 den eignen Hof.

Von links: Elfriede Müller, Annemarie Mewes, Kurt Mewes, Hilde Mewes bei der Silberhochzeit von Betty und Karl Ast

Er war doch sehr geschwächt und so blieb die Hauptlast der Arbeit doch bei der Mutter. Annemarie Mewes lachte selten. Sie war eine sehr fleißige, arbeitsame Frau und ihre Hände ruhten nie. Ihr Mann Kurt war ein fröhlicher Mensch und lachte viel. Er war immer für einen Spaß zu haben. Wenn seine Frau nach einem langen Arbeitstag im Winter am Kachelofen einschlief und manchmal auch etwas schnarchte, nahm er seine Zigarre und steckte sie seiner Frau in den offenen Mund. Sie wachte dann natürlich auf und musste husten und schimpfte über ihren Mann, aber die ganze Familie wollte sich ausschütten vor Lachen. Gemeinsam gingen das Ehepaar Mewes unter Druck der Kommunisten auch in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG-Typ I). Es gab in der DDR drei LPG-Typen. Beim Typ I bewirtschafteten die Bauern gemeinsam die Felder; das Vieh blieb aber noch in Privatbesitz. Am 31.10.1960 starb Kurt Mewes an einer Embolie nach einer Krampfaderoperation im Paracelsus- Krankenhaus Rathenow. Annemarie Mewes arbeitete nun allein auf dem Hof mit ihren Kindern.

Als die Töchter aus dem Haus waren, ging die Witwe Annemarie Mewes in die LPG Typ III. In der LPG vom Typ III war dann alles genossenschaftliches Eigentum. Solange Hertha Brunow lebte, ging sie zu den Geburtstagsfeiern der Nachbarin und kam so ein paar Stunden aus dem ihrem Arbeitsrhythmus heraus und in Kontakt mit anderen Dorfbewohnern.

Annemarie Mewes vor ihrem Weihnachtsbaum 1999

Sie ging auch jeden Sonntag in die Landiner Dorfkirche oder im Winter gegenüber zu Hertha Brunow in den Gastraum der „Gaststätte Muchow“, wo die Gottesdienste im Winter stattfanden. Elfriede Müller aus Landin übernahm die Aufgaben einer Kantorin und spielte auf dem alten Klavier zu den Gottesdiensten.

Annemarie Mewes geht zum Gottesdienst

Als Annemarie Mewes 1976 das Rentenalter erreichte, arbeitete sie noch lange in der LPG mit. Sie war rüstig bis ins 90. Lebensjahr und arbeitete im Haus und Garten des eigenen Grundstückes. Plötzlich waren aber die körperlichen Kräfte erloschen. Sie legte sich ins Bett und wurde immer schwächer. Am 05.02.2013 starb sie mit 96 Jahren, hochbetagt und lebenssatt, in Landin an Altersschwäche. Richtig krank war sie eigentlich nie gewesen. Sie wurde von ihren Kindern, zwei Enkelkindern und vier Urenkeln beweint und betrauert.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.07.2019


 

Ein Verkehrsunfall

Luise und Enrico nach der Trauung

Enrico war jung, hübsch und hatte Charme. Er hatte die Gabe, die Mädchen und Frauen des Dorfes für sich zu gewinnen. Sie liebten ihn alle. Er hatte dunkelblondes Haar und wenn er mit seinen blauen Augen die Mädchen anschaute, zitterten sie schon bei seinem Anblick. Er arbeitete auf der Wirtschaft seiner Eltern mit und hatte nur noch eine jüngere Schwester, die aber schon als Baby gestorben war, weil die Mutter noch während sie stillte, ein Abführmittel einnahm, das bei ihrer Tochter tödliche Krämpfe verursachte. Nun konzentrierte sich die ganze Liebe der Eltern auf Enrico, auch wenn er behauptete, seine Mutter hätte ihn so oft verprügelt, dass es für fünf Kinder ausgereicht hätte. Die Eltern Helene und Otto waren fleißige Landwirte und arbeiteten auf dem Hof Tag und Nacht. Nur selten nahmen sie sich Leute dazu, die ihnen halfen und die sie bezahlen mussten. Der Vater trank gern in der Muchowschen Kneipe Schnaps und Bier und kam dann ziemlich betrunken nach Haus, wo ihn Helene schimpfend in Empfang nahm und brummte: “Bist´e schon wieder besoffen?“ Otto lallte dann: „Ick war noch nie in meinem Leben dun, Hest´e mi all ens dun jesehn?“ (Ich war noch nie in meinem Leben betrunken. Hast Du mich schon einmal betrunken gesehn?) Dann lachte Helene und brachte ihren Mann zu Bett. In der Nacht trampelte er gegen das Bettende so gewaltig, dass Helene ihren Mann weckte und fragte: „Mann wat is die denn?“ „Ach,“ sagte er, „bei den Nachbarn hat es gebrannt und ich musste mit den Füßen das Feuer austreten.“ „Das war doch nur ein Traum,“ meinte sie, „schlaf mal weiter!“
Enrico war ein junger Mann geworden und musste in den Krieg (1939 -1945). Er geriet in britische Gefangenschaft und wurde von den Briten in ein Lager nach Ägypten verfrachtet. Von dort schrieb er Briefe an seine Eltern. Helene und Otto weinten, wenn sie die Briefe lasen und waren doch froh, dass er noch am Leben war. Aber er wurde von den Briten bald entlassen und kam zurück nach Landin, wo er den Eltern bei der Arbeit tüchtig zur Hand gehen musste und sein altes Leben wieder aufnahm, als wäre nichts passiert. Einmal traf er aber eine junge Frau aus Friesack, die war nicht nur hübsch und temperamentvoll, die hatte ihm auch, er wusste gar nicht wie, völlig den Kopf verdreht. Sie hieß Rosemarie, war klein und zierlich und hatte braune Augen und lange schwarze Haare, die sie immer im Wind flattern ließ. Er war mit ihr zusammen, so oft es ging, und sie bummelten so ein Jahr dahin. Dann entschloss er sich, Rosi zu fragen, ob sie nicht seine Frau werden wollte? Zu seinem Erstaunen sagte sie: „Nein,“ und blieb auch dabei. Er drang in sie und fragte immer wieder: „Warum denn nicht?“ Und endlich sagte sie ihm. „Du brauchst eine Frau, die auf Eurem Hof tüchtig mitanpacken kann. Mir ist die Arbeit in der Landwirtschaft zu schwer, und es ist besser wir trennen uns jetzt.“ Das war ja alles richtig, was sie sagte, das wusste er wohl, denn die Eltern waren alt und brauchten eine jüngere Kraft auf dem Hof. An Geld fehlte es ihnen nicht. Sie erfüllten immer ihr Soll und verkauften den Überschuss mit gutem Gewinn. Nach dem Krieg kostete ein Pfund Butter zeitweise 400,00 Mark. Enrico war nach dieser Antwort richtig krank, so wie er es noch nie erlebt hatte. Sonst war er derjenige, der sich getrennt hatte und nun war es das erste Mal, dass eine Frau ihm den Laufpass gab, die er liebte, wie noch keine vorher. Er fiel in eine Depression, aus der er aber nach einem halben Jahr wie aus einem Alptraum erwachte und sich sagte: „Ja, Rosi hatte Recht. Er brauchte eine Frau für den Hof.“ Seine alte Mutter bedrängte ihn auch jede Woche nun endlich zu heiraten. So bändelte er mit einer jungen Frau aus der Nachbarschaft an, die die Arbeit auf einem Bauernhof gewohnt war und nach kurzer Verlobungszeit heirateten beide in der Landiner Dorfkirche. Sein Frau Luise arbeitete auf dem Hof und auf den Äckern vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang. Sie molk die Kühe und fütterte die Schweine. Sie trug die schweren Eimer voll Milch zur Zentrifuge und butterte im Butterfass die Sahne zu vielen Stücken Butter, die dann verkauft wurden. Sie hackte die Rüben auf dem Acker und brachte das Heu und den Weizen mit ein. Sie liebte ihren Enrico herzlich, denn sie wusste nichts von der Vorgeschichte. Sie kannte zwar seinen Ruf als Dorfcasanova, aber wie jede verliebte Frau dachte sie, er hätte sein altes Leben ihr zuliebe aufgegeben. Er war auch ein ausgezeichneter Liebhaber und Luise erlebte die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Er war eine Frohnatur, immer zu einem Spaß aufgelegt und er trieb auch seinen Spaß mit den Leuten und lachte viel. Wenn ein Nachbar gestorben war und die Freunde ihn baten, doch zur Beerdigung mitzugehen, antwortete er: „Der geit bei mi ook nich met,“ (Der geht bei mir auch nicht mit.) und blieb zu Haus. Wenn die Nachbarn ihn fragten : „Enrico, wie geht es Dir heute, „ sagte er, „ Immer möh un Appetit of Wost.“ (Immer müde und Appetit auf Wurst.)
Luise war eine stille zurückhaltende Frau, die ihn nur immer bewunderte. Er hatte die Landwirtschaftsschule in Rathenow besucht und sie bildete sich auch fort und machte eine Ausbildung zum Facharbeiter in der Landwirtschaft, aber sie blieb eine einfache schlichte Frau, wenngleich sie jetzt auch reich war. Kaum war sie das erste Mal schwanger, hatte sich Enrico schon wieder an ein sehr junges Mädchen herangemacht und traf sich mit ihr regelmäßig. Seine Frau vernachlässigte er nach der Entbindung aber keinesfalls, sodass sie erneut schwanger wurde und ihm einen zweiten Sohn schenkte. So gingen die Jahre dahin. Seine Liebschafen wechselten, aber auch als er älter wurde, hatte er immer neben seiner Frau eine Intimfreundin. Luise hatte lange nichts bemerkt, aber schließlich kam sie doch dahinter und war wütend. Sie überlegte auch ernsthaft, sich scheiden zu lassen, verwarf aber den Gedanken bald wieder. Sie weinte viel. Enrico rauchte wie ein Schlot. Eine Schachtel Zigaretten reichte oft nicht am Tag. Sie zankte mit ihm rum und sagte: „Wenn Du so weiterlebst, solltest Du wenigstens eine Lebensversicherung abschließen.“ „Mache ich,“ sagte er, und fuhr in die Stadt und schloss eine hohe Lebensversicherung zugunsten seiner Frau ab, sodass sie im Todesfall 1,5 Mio. Mark erhalten sollte. Er hatte jetzt eine junge Frau im Dorf zur Geliebten, die mit ihrem Mann nicht recht glücklich war und in Enrico den Menschen gefunden hatte, der ihr diese glücklichen Stunden verschaffte. Beide dachten dabei nie an Scheidung. Ein halbes Jahr nach Abschluss der Lebensversicherung erkrankte Enrico mit Herzschmerzen und eine alte Ärztin aus Rathenow Conradine Rothenberg kam und untersuchte ihn und sagte:“ Ich verordne Ihnen strenge Bettruhe für eine Woche. Stehen Sie nicht auf und gehen sie nur zur Toilette. Ihr Herz ist stark angegriffen und muss sich erst wieder erholen. Ich schreibe Ihnen Tropfen gegen die Schmerzen auf. Ich komme nächste Woche wieder und untersuche Sie noch einmal. “ „Ja,“ sagte Enrico, „ich mache alles Frau Doktor. Ist es denn so ernst?“ „Machen Sie das, was ich Ihnen sage. Es ist schon eine schwere Erkrankung.“ Enrico blieb zwei Tage im Bett. Die Schmerzen waren weg. Am dritten Tag stand er wieder auf, mistete den Schweinestall aus, rasierte und wusch sich und sagte zu seiner alten Mutter: „Ich fahre mit dem Auto mal schnell in die Stadt. Ich muss auf der Bank noch was erledigen.“ „Aber die Doktorsche hätt di doch für eene Woche Bettruhe verordnet,“ fragte die Mutter erstaunt. „I wo, wat kiehrt mi dat,“ antwortete der Sohn und fuhr mit dem Auto zu seiner Freundin und dann brausten sie in den Wald bei Görne und hielten auf einem einsamen Waldweg, wo Enrico die Vordersitze umklappte und dann machten beide das, was sie am liebsten taten. Doch auf dem Höhepunkt dieser Beschäftigung hörte Enrico plötzlich auf zu atmen, er verdrehte die Augen und sagte keinen Mucks mehr. Die junge Frau schüttelte ihn und rüttelte ihn, aber er bewegte sich nicht mehr. Da befreite sie sich von der Last seines Körpers und lief zur Landstraße und hielt spärlich bekleidet ein Auto an und bat um Hilfe. Der Autofahrer kam mit und fand den nackten Enrico in einer unzweideutigen Stellung, aber tot. Er versprach zum nächsten Dorf zu fahren und Hilfe zu holen. In Landin rief er von der Gaststätte Muchow, wo das nächste Telefon stand, die Polizei an und bestellte einen Krankenwagen. Es gab ja noch keine Handys, und er meldete einen Verkehrsunfall bei Görne. Als die Polizei und der Krankenwagen eintrafen, konnte man Enrico nur noch tot bergen. Ein Herzinfarkt hatte seinem Leben ein jähes Ende bereitet. „Ein schöner Tod“, meinten die Leute. Luise beweinte ihn mit ihren Schwiegereltern und den Kindern und sagte allen, dass Enrico der beste Ehemann gewesen wäre und sie immer glücklich mit ihm war. Sie begrub ihn und betrauere ihn, wie es sich gehörte und freute sich über 1,5 Mio. Mark, die ihr die Lebensversicherung auszahlte. Allerdings wusste sie nicht recht was mit dem Geld anzufangen. Die Familie war eigentlich auch so reich genug.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.06.2019


 

LPG-Vorsitzender Johann Bauer

Katharina und Johann Bauer

Die LPG „Freie Scholle“ in Landin hatte von 1952 – 1970 Johann Bauer zum Vorsitzenden gewählt. Johann Bauer war am 14.12.1906 in Fürstenthal im Kreis Radautz in der Bukowina in Rumänien geboren. Es war eine katholische deutschsprachige Enklave in Rumänien, wo die Menschen mit Waldarbeiten ihr Täglich Brot verdienten. In der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte Siebenbürgen noch zum Königreich Ungarn und die Bukowina war direkt hinter der östlichen Grenze des ungarischen Königreiches gelegen und gehörte wie das noch etwas östlicher gelegene Bessarabien zu Rumänien.
Er besuchte vier Jahre die deutsche Schule in seinem Dorf und ging dann mit seinem Vater schon in den Wäldern der Umgebung, um dort mitzuarbeiten. Er musste auch vier Jahre seinen Wehrdienst in der rumänischen Armee absolvieren. Johann Bauer verliebte sich in Katharina Stadler, geboren am 15.11.1908, die er schon aus der Schule kannte. Sie war inzwischen Hausangestellte bei einer Arztfamilie. 1932 gaben sie sich in er kleinen Kirche in Fürstenthal das Jawort und der Priester segnete ihren Ehebund.

Königreich Ungarn

Römisch-Katholische Kirche in Fürstenthal

Am 24.12.1933 wurde dem Ehepaar die Tochter Anna, am 27.11.1936 der Sohn Rudolf, am 06.05.1939 die Tochter Therese und am 22.10.1940 die Tochter Erika geboren und in der kleinen katholischen Dorfkirche in Fürstenthal getauft. 1940 musste die Familie ihre Heimat verlassen und wurde nach Bollesczyn, Kreis Litzmannstadt (Lodz), umgesiedelt. Dort wurde am 07.08.1943 Otto Bauer als fünftes Kind der Familie geboren. 1945 musste die Mutter mit den Kindern fliehen und kam nach Pessin im Kreis Westhavelland. Dort wurde am 15.08.1945 der Sohn Bernd geboren. Johann Bauer war 1942 von der Wehrmacht eingezogen worden und musste an die Front nach Frankreich, wo er das rechte Auge durch einen Granatsplitter verlor.

1945 geriet er in Amerikanische Gefangenschaft und kam nach der Entlassung nach Landin. Katharina Bauer hatte in Pessin erfahren, dass ihr Schwager Rudolf Gnad Revierförster in Landin war. Er hatte in Fürstenthal (Bukowina) die Schwester ihres Mannes, Ottilie Bauer, geheiratet. Ebenso hatte sich ihr Schwager Karl Gaschler in Landin angesiedelt, der die Schwester Leontine ihres Mannes geheiratet hatte. Johann Bauer wohnte nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 -1945) mit seiner Familie im Schloss in Landin und erhielt durch die Bodenreform etwas Land und baute 1949 ein Neubauernhaus in der Steinstraße 1 in Landin.
Er trat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei und wurde nach der Gründung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) „Freie Scholle“ deren Vorsitzender.

Johann Bauer (links) in Litzmannstadt

Neubauernhof Steinstr. 1 in Landin

Der LPG-Vorsitzende Johann Bauer (links) mit Iris Hünicke vor dem LPG-Büro in Landin

Mit der SED gab es hin und wieder Reibereien, denn seine Frau hatte bestimmt, dass man nicht aus der Katholischen Kirche austrat, was für SED-Mitglieder ungewöhnlich war, da das Statut der SED das Bekenntnis ihrer Mitglieder zum Atheismus forderte. Am 22.07.1951 wurde die jüngste Tochter Gisela in Landin geboren. Johann Bauer saß im Sommer gern mit seiner Frau vor dem Haus und erzählte mit ihr bis spät in die Nacht.

Familienbild
(von links: Otto Bauer, Bernd Bauer, Therese Bauer, Erika Bauer, Anna Bauer, Katharina Bauer, Johann Bauer)

Nach dem Kriege mussten die Menschen stundenlang ohne elektrischen Strom auskommen. Die so genannten „Stromsperren“ waren für den Familienmensch Johann Bauer schöne Zeiten. Er versammelte alle Familienmitglieder um sich, zündete eine Kerze an und erzählte selbst ausgedachte Geschichten. Sie waren voller Schalk, und die andächtig zuhörenden Kinder merkten erst viele Jahre später, dass der Vater geflunkert hatte. Er sprach viel über den Wald und von den Bäumen, mit denen er in der Bukowina aufgewachsen war. In einer Geschichte erzählte er den Kindern von einem Waldarbeiter, der sich so über etwas erregt hatte, dass er sich die rechte Hand abhackte. Das ärgerte ihn noch mehr, sodass er auch die linke Hand abhackte. Dass das praktisch gar nicht möglich war, fiel den Kindern nicht sofort auf. Er las der Familie auch oft abends Geschichten aus dem Buch „Alitet geht in die Berge“ von Tichon Sjomuschkin vor. Der Roman war 1950 im Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur herausgegeben worden und hatte 1948 den Stalinpreis erhalten. Das Weihnachtsfest war für die Familie immer ein sehr inniges Fest. Am Heiligabend ging der Vater mit den Kindern in seinen Wald und holte den Weihnachtsbaum. Die Mutter schmückte ihn dann am Nachmittag, und abends saß die Familie beim Essen zusammen. Es gab Kartoffelklöße mit einer Soße aus weißen Bohnen mit Rauchfleisch. Während des Essens ging der Vater meist unbemerkt hinaus, und es erschienen vor dem Küchenfenster Weihnachtsgeschenke, die der Vater an der Außenseite des Fensters so vorbeiführte, dass man ihn nicht sah. Es hieß dann immer: „Das Christkind hätte die Geschenke gebracht.“

Die Neubauern hatte ja keine Maschinen und so richtete der Staat zunächst Maschinenausleihstationen (MAS) ein, die später als Maschinentraktorenstationen (MTS) den LPG´n angegliedert wurden. Katharina Bauer war Chefin des Hühnerstalls der LPG, der sich gleich hinter ihrem Haus in der Steinstr. 1 befand. Manche Wirtschaften konnten nicht mehr ordentlich betrieben werden, weil die Besitzer einfach zu alt waren. So hatte der kommunistische Staat für die Landwirte Fritz Sandberg und Otto Hünicke einen Örtlichen Landwirtschaftsbetrieb (ÖLB) gebildet, der von einem externen Landwirt geleitet wurde, um sie zu unterstützen. Als 1952 die LPG „Freie Scholle“ Landin gegründet wurde, kamen dieses Wirtschaften des ÖLB natürlich auch in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG). Die ersten LPG-Mitglieder waren Johann Bauer, Gustav Tietke, Karl Gaschler, Johann Widmeier, Albert Wachs, Berthold Radke und Karl Mutz. Zum LPG-Vorsitzenden wählte man Johann Bauer. Er war mit seinem Hut und der Zigarette eine Institution in Landin. Er fuhr immer mit einem Simson-Moped SR 2 hin und her. Meist bremste er die Fahrt mit beiden Füßen ab. Er organisierte die Zusammenarbeit der Bauern in dem kleinen Dorf. Zunächst waren ja alle Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft im Typ I. Das bedeutete, man bewirtschaftete gemeinsam die Wiesen und Felder und das Vieh hatte jeder noch als Privateigentum. Später gab es aber auch nur noch die Genossenschaften vom Typ III, wo auch das Vieh Genossenschaftseigentum war. Johann Bauer leitete die LPG sehr pragmatisch. Wenn bei den Viehzählungen von den Kontrollkommissionen Unstimmigkeiten festgestellt wurden, stand er zu seinen LPG-Mitgliedern und erklärte die zu geringe Zahl der Hühner mit dem Habicht und die fehlenden Rinder mit Notschlachtungen. Er bewertete diese Statistiken so, wie sie normale Menschen sehen sollten. Sie wurden meist für den Papierkorb produziert, und er mochte keine unnötigen Arbeiten. Die heftigste Auseinandersetzung mit der Regierung führte Johann Bauer in einem Kampf gegen die Rinderoffenställe. Er vertrat zurecht die Auffassung, dass die Kühe im Winter in einen warmen Stall gehören, wenn sie ausreichend Milch geben sollen. Die SED-Kreisleitung blieb bei dieser Kampagne hart und wollte den Neubau der Rinderoffenställe mit aller Kraft durchsetzen. Als er in der SED-Kreisleitung keine Mehrheit für seine Ziele bekam, meinte er wütend: „Dann baue ich Euch eben die Rinderoffenstellen, aber Ihr könnt sicher sein, dass ich alle Wände mit so viel Strohballen abdichte, dass die Landiner Kühe nicht frieren werden.“

Der Staat verließ sehr bald die Forderung nach dem Bau von Rinderoffenstellen, weil die Milchproduktion, wie es Johann Bauer vorausgesagt hatte, in diesem Bereich erheblich zurückging. Johann Bauer war ein fröhlicher Mensch. Er liebte seine Familie und war sehr gesellig. Bei den LPG-Festen, die in der Muchowschen Gaststätte stattfanden, war das ganze Dorf auf den Beinen. Vor der Gaststätte standen Tische und Stühle, und es war auch ein Maibaum aufgestellt. Johann Bauer konnte sehr lustig sein und trank auch mal gern einen über den Durst. Dann sang er ein Lied aus seiner Heimat, der Bukowina, was seiner Frau gar nicht gefiel.

Erika Bredendig, geborene Bauer

Video

Wenn ich meinen Schimmel verkauf`,
dis Geld, des ich kriege, versauf`.
Do sogt mir mein Voder, dis is a Suldot,
der allas vasuffa hot.
Do sogt mir mein Vader, dis is a Soldot,
der alles versuffe hat.

Wer wird, wenn i sterb`, mit mir geh´n?
Wer wird, wenn i sterb`, mit mir geh`n?
Der Schnops und des Bier, die Gläser und s`G´schirr,
Frau Wirtin hatscht* a no mit mir.
Der Schnops und des Bier, die Gläser und`s G´schirr,
Frau Wirtin hatscht* a no mit mir.

Wus wird auf mein Grabstein drauf steh`n?
Was wird auf mein Grabstein drauf steh`n?
Vorbei ist die Not, hier ruht a Suldot,
der ollas versuffa hat.
Vorbei ist die Not, hier ruht a Suldot,
der ollas versuffa hot.

  (*hatscht = latscht)
 

Natürlich trat Johann Bauer bei den Parteiversammlungen der SED immer als Kommunist auf. Er war dem Fortschritt zugewandt und sogar Mitglied der SED-Kreisleitung in Rathenow. Aber im Herzen war ein Christ geblieben. Es gab für ihn andere Maßstäbe im Leben. Dazu hatte er zu viel Lebenserfahrung und seine Biografie, die ihn durch halb Europa in das kleine Landin verschlagen hatte, zeigt ja auch, dass er in vielen Situationen seinen Mann stehen musste und seine Frau Katharina, der die Hauptlast der Erziehung der Kinder in den Kriegsjahren oblag, war eine kluge, fleißige und liebenswerte Frau, die ebenso aufrecht im Leben stand wie ihr Mann. Am 05.12.1978 starb er im Alter von 72 Jahren, beweint und betrauert von seiner Frau und den Kindern. Die Trauerrede hielt Otto Kienscherf, ein Mitglied der SED-Kreisleitung und Sekretär für Agitation und Propaganda in Rathenow. Seine Frau folgte ihm am 06.05.1984 nach und wurde neben ihm auf dem Rathenower Friedhof beigesetzt. Das Requiem für Katharina Bauer hielt der katholische Pfarrer von St. Georg in Rathenow, Helmut Gentz.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.05.2019


 

Die stille Pauline


„Die stille Pauline“ war für die Landiner das Tor zur Welt. Mit der Kleinspurbahn von Rathenow waren die Dörfer Stechow, Ferchesar, Kotzen, Landin, Kriele, Haage und Senzke am Eisenbahnnetz in ganz Deutschland angeschlossen. Sie fuhr von Rathenow nach Paulinenaue, daher der Name „Die stille Pauline“ und eine Abzweigung von Senzke führte auch zur „Stadt Nauen“, wie man früher sagte, denn es gab ja noch das Dorf „Hohennauen.“

Einmal fuhren zwei Landiner, Fritz Mewes und Gerhold Müller mit der Kleinbahn von Landin zur Stadt Nauen, als in Haage ein neuer Fahrgast einstieg und gleich auf Gerhold Müller zuging, ihm die Hand schüttelte und fragte: „Wie geht es Dir denn Gustav?“ „Gut, gut, gut,“ antwortete der Angesprochene. „Was machen denn Deine Frau und die Kinder, Gustav?“ „Auch gut,“ erwiderte er. Als der Fahrgast in Pessin ausstieg, verabschiedete er sich überschwenglich und bestellte noch einmal viele Grüße an Frau und Kinder. Nachdem der Zug wieder angefahren war, sagte Fritz Mewes zu seinem Freund: „Du heißt doch gar nicht Gustav und bist doch auch nicht verheiratet und Du hast auch keine Kinder. Warum hast Du nichts gesagt?“ Gerhold Müller erwiderte ihm seelenruhig: “Ja, das ist alles richtig, was Du sagst. Ich kannte den Mann auch nicht, aber sollte ich mich mit ihm streiten?“

Haltestelle Landin

Für die Bauern war „Die Stille Pauline“ überlebenswichtig, wenn im Herbst die Zuckerrüben zur Zuckerfabrik nach Nauen gebracht werden mussten, für den Transport von Kartoffeln, Korn, Obst und Gemüse und für das Schlachtvieh. Alles transportierte „Die Stille Pauline“ – natürlich auch die Menschen, die zum „Inköpen“ (Einkaufen) in die Kreisstadt Rathenow fuhren. Von dort war es dann auch nur ein Sprung nach Berlin. Es gab richtig schöne Bahnhöfe wie in Stechow, aber auch nur Haltepunkte, die einfach zwischen Feldern lagen und doch keine 1000 m weiter von Stechow schon als „Bahnhof Ferchesar“ bezeichnet wurden. Es gab auch für den damaligen Stress folgendes geflügeltes Wort, das Agnes Barnewitz zugeschrieben wird: „Wäsche wascht, Mann begraven und nach Stadt jeführt“ (Wäsche gewaschen, Mann begraben und in die Stadt gefahren), wobei damit Rathenow gemeint war. Die Besucher des Adels und aller anderen Familien kamen mit der Stillen Pauline nach Landin, aber auch das Dienstpersonal und die Knechte und Mägde für die Bauern, denn es musste ja noch alles mit der Hand gemacht werden und der Bedarf an Arbeitskräften war besonders im Herbst groß.

Eisenbahnzug auf einer Postkarte von Kotzen

Wenn sich Besuch bei den von Bredows angesagt hatte, fuhr der Kutscher zum Bahnhof Landin und holte die Gäste pünktlich ab. Die Besucher hatten ja meistens eine briefliche Korrespondenz vorausgeschickt und „Die Stille Pauline“ war berühmt für ihrer Pünktlichkeit. Man konnte die Uhr danach stellen, auch wenn sie immer auf Gäste, die mit der Bahn in Rathenow eintrafen, wartete. Dem Schaffner wurde Bescheid gesagt, dass man die Tante aus Berlin erwartete und dann konnte man in Ruhe alle Koffer, Kästen und Taschen, es gab auch noch Reisekörbe, in „Die Stille Pauline“ bringen und dann ging die Reise los. Es war ja von Rathenow eine wunderschöne Fahrt durch das Havelland mit seinen Wäldern, Wiesen und Feldern. Ob die Menschen damals dafür Augen hatten, weiß ich nicht, aber heute wäre „Die Stille Pauline“ eine Touristenattraktion. Nach der Landesgartenschau 2006 und nach der Bundesgartenschau 2015 hat es ja eine regelrechte Invasion von Touristen im Havelland gegeben, und ich denke, das wird auch zukünftig ein wichtiges Standbein der Wirtschaft sein. Im Havelland gibt es so manche Sehenswürdigkeit wie die Sieben-Brüder-Eiche in Friesack, der Hochzeitsbaum in Linde und natürlich die Lady Agnes in Stölln. „Die Stille Pauline“ fuhr von 1932 bis zum 31.03.1949 und wurde vom Landkreis Westhavelland betrieben. Sie sollte den Landkreis an die Bahnnetze nach Berlin und Hamburg anschließen. Der Sitz der Verwaltung der Schmalspureisenbahn war in Rathenow.

Schmalspurbahn beim Überqueren des Havelländischen Hauptkanals



Stille Pauline bei Senzke

Erika Piesche (*30.08.1917 - † 10.02.2012) aus Bamme hat ein Gedicht über die Stille Pauline geschrieben.

1. Auf die rasende Pauline
stimme ich mit froher Miene
dieses schöne Liedchen an,
das man leicht behalten kann.

2. Ohne Reichsbahn und Benzin
kommt man nicht mehr nach Berlin.
Helfe, wer da helfen kann!
Die Pauline hat´s getan.

3. Rin in die Paulinenschlange,
denn sie wartet nicht mehr lange,
vorn die Milch und hinten wir,
vorwärts heimwärts! Ab dafür.

4. Erst kommt Stechow früh am Tage
und Ferchesar, Kotzen, Haage,
dampft sie dann in Senzke an,
Junge, da ist alles dran.

5. Die Pauline muss rangieren,
Wasser saufen, Lager schmieren,
warten auf den Gegenzug,
Mensch, da haste Zeit genug.

6. Betty Muchow aus Landin,
lässt sie still vorüber ziehn,
denn der Max ihr, lieber Mann,
kam aus Rathenow heut nicht an.

7. Brennt die Sonne heiß am Himmel,
ruckt Pauline mit Gebimmel
plötzlich ab im vierten Gang,
alles fliegt im Wagen lang.

8. Kriele, Retzow, Selbelang,
immer mang die Wiesen mang,
Ribbeck, Berge und sodann
landen wir in Nauen an.

9. Müde und mit steifen Knochen
kommen wir herausgekrochen,
keiner macht sich etwas draus,
denn jetzt sind wir ja zu Haus.

10. Alles stimme mit mir ein:
„Hoch soll sie gepriesen sein!
Und wir rufen dreimal noch:
„Die Pauline leben hoch!“

Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 -1945) wurden die Schienen der Stillen Pauline als Reparationsleistungen abgebaut und in die Sowjetunion (Russland) gebracht und dort sicher eingeschmolzen. Es war ja auch bei den Russen durch den Krieg alles zerstört worden und es war ein schwieriger Wiederaufbau in beiden Ländern zu bewältigen. Man sollte aber die Vision der Wiederinbetriebnahme der „Stillen Pauline“ nicht aus den Augen lassen. Es wäre für den Tourismus wichtig.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.04.2019


 

Der Sägespäneofen

Alwine Jahnke lebte mit ihrem Mann Heinrich und den drei Söhnen in einem kleinen Haus in Landin. Der Mann arbeitete als Kraftfahrer für das Sägewerk Wodke in Rathenow und fuhr einen Tankholzlaster. Der LKW hatte neben dem Fahrerhaus einen runden Tonnenofen, der mit Tankholz befeuert wurde und dadurch ein Gas erzeugte, das den Motor antrieb. Tankhölzer waren Holzstücke vom 20-30 cm Länge und Breite, die extra für den Ofen so geschnitten wurden. Nach dem Krieg 1939 -1945 waren LKW´s rar und jedes Transportmittel hochwillkommen. Im Sägewerk Wodke gab es Sägespäne ohne Ende und man wusste nicht recht, wohin damit? So machten die Menschen aus der Not eine Tugend und die Rathenower Firma „Ofen und Herdbau“ entwickelte einen Sägespäneofen.

Zeichnung: Kathrin Kumbunda

Der bestand aus einem runden Metalleinsatz mit einem Loch unten und einem runden Metallofen mit abnehmbarem Metalldeckel und einem Ofenrohransatz. Unten im Metallofen befand sich ebenfalls ein rundes Loch und darunter ein Metallschubfach. Heinrich hatte von dem Sägespäneofen gehört und seine Frau Alwine bedrängte ihn sofort, so einen Ofen zu beschaffen, denn die Sägespäne bekam er kostenlos von seiner Firma Wodke. Der ganze Schuppen hinter dem Haus wurde nun mit Sägespäne gefüllt und am Nachmittag begann Alwine den Ofeneinsatz mit Sägespäne zu füllen, in dem sie einen Holzstock in das untere Loch des Einsatzes steckte und dann rundherum alles mit Sägespäne vollstampfte. Dann trug sie den Einsatz ins Haus und stellte ihn in den Ofen. Der Stock wurde herausgenommen, sodass eine kleine Luftsäule in dem Sägespäneofen entstand. Sie verschloss den Ofen mit dem Deckel und zündete in dem Schubfach unter dem Ofen mit Papier ein kleines Feuer an, dass sofort die Sägespäne in Brand setzte und der Metalldeckel manchmal sogar glühte, denn der Brand setzte sich von innen nach außen in der Luftsäule fort. Das dauerte die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen. Das Wohnzimmer war mollig warm und es war ein sehr sparsames Verfahren. Aber der Mensch ist ja erfinderisch und bald hatte Alwine herausgefunden, dass, wenn sie ein paar Briketts in die Sägespäne legte, der Ofen noch länger heizte. Nur gab es manchmal das Phänomen, dass die Kohle den inneren Hohlraum, der zum Brennen ja notwendig war, verstopfte und es, wenn die Kohle durchgebrannt war, eine kleine Explosion gab und der Deckel des Ofens ein paar Zentimeter hoch flog. Dann war das Zugloch wieder frei und der Ofen brannte normal weiter. Die Familie hatte sich bald daran gewöhnt und fand an den Eruptionen nichts Ungewöhnliches mehr. Ob eine Gefahr für eine Rauchgasvergiftung bestand, interessierte damals keinen Menschen. 1954 sollte der älteste Sohn, Siegfried, konfirmiert werden und der Pfarrer kam an einem Wintertag zu den Jahnkes, um alles zu besprechen. Der Vater hatte vorher mit dem Sohn gesprochen und ihn auf die Bedeutung der Konfirmation hingewiesen. „Wenn ich was sage und es ist wahr, kannst Du es glauben,“ sagte er zu Siegfried und die Mutter ergänzte: “So sieht´s aus.“ Alwine hatte den Sägespäneofen in Brand gesetzt und einen Kuchen gebacken. Nachdem der Kuchen angeschnitten war, fragte der Pfarrer, ob er seine Jacke ausziehen dürfe, denn der Ofen hatte das Zimmer wohl auf 40 Grad Celsius gebracht. Das Gespräch über den Konfirmationsspruch und die wichtige Zäsur im Leben des Sohnes war gerade in vollem Gange, als es eine Explosion gab und der Deckel des Sägespäneofens ein paar Zentimeter nach oben geschleudert wurde. Der Pfarrer hatte sich so darüber erschrocken, dass er kurz vor einem Schock stand, aber die Familie beruhigte ihn und lachte und sagte, das sei ganz normal, denn eine Kohle hätte nun wieder die Brandsäule freigegeben. Es wurde die Funktion des Sägespäneofens erklärt, aber der Pfarrer verabschiedete sich doch hastig, er hätte noch einen Termin. Die Sache war ihm anscheinend unheimlich. Zur Konfirmationsfeier kam er aber dann doch mit seiner Frau, hielt sich aber immer in respektvollen Abstand von dem Ofenungetüm.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.03.2019


 

Die Bötfrau von Landin

Bötfrau Anni

Anna Amalia Fischer lebte mit ihrem Mann und den drei Kindern am Rande des Dorfes in Landin. Ihr Mann war früh gestorben und so bewirtschaftete sie mit ihrer alten Mutter Elsbeth Sydow das kleine Anwesen, als die Kinder aus dem Haus waren. Ihre Mutter war eine „weise Frau“, wie man das so sagte, denn sie sammelte das ganze Jahr hindurch Kräuter, Wurzeln und Früchte und verarbeitete sie zu Tees und heilkräftiger Salben oder Tropfen. Sie hatte Ringelblumensalbe für die schlecht heilenden Wunden. Die Blüten der Ringelblume kochte sie mit Schweineschmalz und goss das flüssige Schmalz durch ein Sieb in kleine Gläser und verabreichte es ihren „Kunden“. Im Haus hatte sie ein kleines Zimmer eingerichtet mit sieben Stühlen auf der einen Seiten und einem Stuhl auf der anderen Seite. Wenn Menschen zu ihr kamen, um ihren Rat einzuholen, setzte sie sich auf den einzigen Stuhl an der Wand, bat ihre Besucher auf der langen Stuhlreihe Platz zu nehmen und fragte: „Wat kann ik voor di duun?“ Manchmal kamen auch aus den umgebenden Dörfern und aus Rathenow Menschen mit allerlei Gebrechen zu ihr. Sie starb mit 89 Jahren und vermachte ihr Wissen an ihre Tochter, die nun die „Bötfrau“ im Dorfe wurde. Anna war oft mit ihr unterwegs gewesen und hatte mit ihr Kräuter gesammelt und kannte sich in den Wiesen, Wäldern und Feldern um Landin aus. Sie war mit der Kunst ihrer Mutter aufgewachsen und da sie eine gute Auffassungsgabe hatte, war sie bald genauso gut, wie ihre Mutter. Das Böten oder Besprechen, wie die Leute sagten, hatte sie nun übernommen. Die meisten Menschen kamen zur Behandlung der Gürtelrose zu ihr. Sie kannte auch den Spruch, um diese Krankheit zu heilen und murmelte ihn während sie die Hand über die die entzündeten Areale führte, für ihre Kunden unhörbar vor sich hin: „Rose, Rose weiche! Flieh in eine Leiche!“ Der Spruch musste dreimal gesprochen werden und dann wurden die Patienten für die nächsten zwei Wochen noch einmal bestellt, sodass insgesamt neunmal der Spruch über der erkrankten Stelle gesprochen wurde. Manchmal, wenn die Gürtelrose sehr schlimm war, empfahlen auch die Ärzte, den Patienten zu einer Böt- oder Kräuterfrau zu gehen. Es gab in den Dörfern in der Umgebung überall Männer und Frauen, die diese Kunst verstanden. Viele Leute kamen auch mit Warzen zu ihr. Dann bestellte Anna die Patienten erneut in einer Vollmondnacht und nahm die betroffene Körperstelle, meistens Hände oder Füße in ihre Hand und sagte einen Spruch. Anni, wie sie im Dorf genannt wurde, hatte schon in allen Haushalten ihr Wissen anwenden müssen. Sie hatte ausgezeichnete Hustentropfen und hatte auch die richtigen Tropfen und Tees, wenn im Alter das Wasser in den Beinen war. Für das Bauchweh der Babys verordnete sie Kümmeltee. Der Doktor aus der Stadt schrieb immer hohe Rechnungen und wer konnte sich das schon leisten außer ein paar reichen Bauern und der Familie von Bredow. So hatte sie ihr Auskommen, denn die Landiner zahlten gern mit Eiern, Gänsen, Enten oder auch mit Kartoffeln oder einem Sack Mehl. Der Förster lieferte ihr für ihre Dienste das Brennholz für den Winter. Sie wurde auch gerufen, wenn die Kühe verkalbten oder nicht mehr fressen wollten. Oft wusste sie Rat, aber das war nur die Ausnahme. Ihre Salben und Kräuter waren doch in erster Linie für die Menschen bestimmt. Die Landiner dankten es ihr auf vielfältiger Weise und verehrten sie bis zu ihrem Tode wie eine weise Frau.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.02.2019


 

Lisa Gretzinger fliegt nach Moskau

Lisa Gretzinger war eine LPG-Bäuerin, die fleißig die Milchsammelstelle hinter ihrem Haus betreute. Ihr Haus stand in der Bergstraße 8 in Landin nur ein paar Schritte von ihrer Arbeitsstelle entfernt. Ihr zu früh verstorbener Mann hatte ihr ein tüchtiges Geldpolster hinterlassen, mit dem sie gut zurechtkam. Die zwei Söhne, Günter und Werner, gingen ihrer Wege und nur Lenchen Lüpke, ihre Schwester aus Spaatz, kam ab und an zu Besuch und brachte ihren Haushalt wieder auf Vordermann. Sie war eine fleißige und gutmütige Frau und versuchte mit allen Menschen in Frieden zu leben. Sie hielt sich auch zur Kirche und kam jeden Sonntag zum Gottesdienst, wenn denn in Landin Kirche war. Sie spielte auch gern Karten und verbrachte viele Sonntage besonders im Winter und wenn es ihre Arbeit erlaubte bei Hertha Brunow und spielte mit ihr und ihren Gästen bis spät in die Nacht Canasta oder Rommé. Ihren Mann hatte sie herzlich geliebt. Er war ein sehr geschickter Mensch und reparierte viel in der kleinen Wirtschaft selbst. Es waren glückliche Jahre für Lisa.

Lisa Gretzinger mit ihrem Mann August am Hochzeitstag 30.11.1946

1975 hörte sie, dass Elfriede und Walter mit Lucie Ulrich aus Rathenow nach Moskau fliegen wollten. Lisa hatte schon immer den Wunsch, einmal in ihrem Leben zu fliegen und so fragte sie die Drei, ob sie nicht mitkommen könnte. „Selbstverständlich kannst Du da mit,“ sagten sie und so wurde ein neuer Koffer gekauft, neue Schuhe und ein neuer Mantel. Dann ging es nach Berlin-Schönefeld zum Flughafen, wo die Reise starten sollte. Lisa hatte eine große Goldkette mit einem Topas umgelegt und gleich beim ersten Sicherheitscheck bimmelte es im ganzen Flughafen, dass ihre Freundin Luci Ulrich schmunzelt rief: „Lisa rück Deine Pistole raus!“ Erst als die Halskette abgelegt wurde, konnte sie ohne Beanstandung das Sicherheitstor passieren. In Moskau wartete ein Bus und eine Reiseleiterin auf die kleine Reisegruppe von 20 Menschen und zeigte ihnen die touristischen Attraktionen. Natürlich musste man zum Mausoleum und dem Lenin die letzte Ehre erweisen. Lange Schlangen von Russen standen vor dem Mausoleum und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Die Ausländer wurden immer vorgelassen. Rechts und links standen Soldaten als Ehrenformation und bedeuteten den vorbeiziehenden Menschen still zu sein. Walter hatte mit Eisen beschlagenen Schuhe an, die bei jedem Schritt auf dem Marmorfußboden klirrten, was die Soldaten sichtlich verwirrte. Walter tat aber so, als ob ihn das nicht beträfe. Ein Blick auf den toten Lenin und dann war dieser Akt vorüber und man konnte sich dem Kreml und den schönen Kirchen von Moskau zuwenden. Die Pracht der russisch-orthodoxen Kirchen ist unübertroffen und natürlich lockten die Kommunisten auch ihre Besucher mit diesen prächtigen Bauten an. Die Kathedrale des Heiligen Basilius gehörte dazu, wie eine geführte Metro-Tour, wo man die Pracht der Bahnhöfe bewundern konnte. Am schönsten empfand Lisa den Gesang der russisch-orthodoxen Kirchenchöre. So etwas Schönes hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört. Die Reiseleiterin führte sie auch in das Kaufhaus GUM, wo es nur so von Menschen wimmelte. Sie hatte sich bei Luci Ulrich eingehakt und beschaute die Auslagen rechts und links und wandte ihr Gesicht zur Luci und sagte: „Luci kuck mal hier, die Tasche ist doch sehr schön.“ Erschrocken zog sie sofort ihre Hand zurück, denn in dem Gedränge hatte sie sich inzwischen unbemerkt bei einem Russen untergehakt, der ebenso lachte wie sie. Die Reiseleiterin hatte der Gruppe gesagt: „Wenn Sie etwas kaufen wollen, müssen Sie es erst bezahlen und dann zum Verkäufer gehen, der Ihnen die Ware aushändigt.“ Andere Länder - andere Sitten, dachte sich Lisa und kaufte eine Matroschka. Das sind solche bemalten Holzpuppen, in deren Inneren immer eine noch kleinere Puppe enthalten ist. Untergebracht war die Touristengruppe in einem Hotel im Stadtteil Ostankino neben dem 537 m hohen Fernsehturm von Moskau. Der Reisebus holte sie nach dem Frühstück, das in einem Rokokosaal des Hotels serviert wurde, ab und brachte sie auch wieder dorthin zurück. Ein Theaterbesuch stand auf dem Programm und da ging es ins Bolschoi- Theater zum Ballett „Schwanensee“. Es gab wenig freie Zeit. Die Reise war gut durchprogrammiert worden. Manchmal gab es aber doch ein bis zwei Stunden Freizeit im Zentrum der Stadt Moskau, wo die Besucher in Cafés oder in die Kaufhäuser allein gehen konnten oder einfach frische Luft schnappten. Bei diesem Spaziergang hielt ein Auto vor Lisa an. Eine Frau stieg aus und redete auf sie ein. Dabei betastete sie immer Lisa´s Mantel und zeigte ihr Geld. Lisa begriff erst allmählich, dass die Frau ihr den Mantel auf offener Straße abkaufen wollte. Als sie energisch den Kopf schüttelte und sie von sich wies, stieg die Frau wieder in das Auto und fuhr weiter. Lisa und ihrer Begleiter hatten so etwas noch nie erlebt und sprachen noch lange über diesen Vorfall.

von links: Lisa Gretzinger, Elfriede K., Lucie Ulrich und Walter K. in Moskau

Nach drei Tage wurde die Touristengruppe wieder zum Flugplatz Domodedowo gefahren und flog nach Leningrad, wo das Besichtigungsprogramm fortgesetzt wurde. Es ging zum Panzerkreuzer Potemkin, in das Winterpalais und nach Rasliw, wo Lenin angeblich in einer Grashütte gehaust hatte. Auch wurde ein Ausflug zum Schloss Peterhof gemacht. Die Sommerresidenz Peter I. ist ja eine Pracht aus Wasserspielen und Gold. Vor dem Rückflug gab es eine Verzögerung. Es war ein Schaden am Motor des Flugzeugs festgestellt worden und die Touristen schimpften, dass sie ihre Anschlüsse in Berlin nicht mehr erreiche konnten. Ein gut Deutsch sprechender Offizier des Flughafens in Leningrad kam nach den Beschwerden zu der kleinen Gruppe und erklärte, dass man den Schaden beheben wolle und fragte dann hinterlistig: „Oder wollen Sie fliegen mit Defekt?“ Das wollte natürlich keiner. Lisa wollte noch ein paar Brötchen, am Flughafen kaufen, da es Sonntag war und sie in Landin nicht einkaufen konnte. Die Verkäuferin versuchte sie gestikulierend von dem Brötchenkauf abzubringen, aber Lisa ließ sich nicht beirren. Sie kaufte sieben Brötchen. Im Flugzeug kostete sie eines und nun wusste sie, warum ihr die Verkäuferin die Brötchen nicht mitgeben wollte. Sie waren alle mit Sauerkraut gefüllt, was unserem Geschmack nicht so vertraut ist.

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.01.2019


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